Menschenrechts-ExpertInnen sind sich einig: Soziale Grundrechte müssen endlich ins Grundgesetz!

Menschenrechts-ExpertInnen sind sich einig: Soziale Grundrechte müssen endlich ins Grundgesetz!

Am 3. März 2016 fand auf Initiative der Abgeordneten Azize Tank  im Deutschen Bundestag ein Fachgespräch zum Thema „Soziale Menschenrechte im Fokus – Aufbruch oder Stillstand? Aufnahme sozialer Grundrechte ins Grundgesetz“. Als ReferentInnen nahmen daran teil Dr. Claudia Mahler vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR); Prof. Dr. Martin Kutscha; Prof. Dr. Eberhard Eichenhofer sowie Wolfgang Nešković.

 

Moderiert wurde das Gespräch von Matthias W. Birkwald, Obmann der Bundestagsfraktion DIE LINKE. im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Andrej Hunko, Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung der Europarates (PACE) und europapolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion fasste die Erkenntnisse der Debatte zusammen und erläuterte in einen Ausblick wie das aktuelle Gesetzesvorhaben zur Aufnahme Sozialer Grundrechte ins Grundgesetzes implementiert werden soll.

Fachgespräch Aufnahme Sozialer grundrechte ins Grundgesetz

Derzeit erarbeiten die zuständigen FachreferentInnen und FachpolitikerInnen der Bundestagsfraktion DIE LINKE. unter Federführung von Azize Tank ein Änderungsgesetz zum Grundgesetz. Dabei bauen sie auf den umfangreichen Vorarbeiten eines Gesetzentwurf zur Aufnahme Sozialer Grundrechte in das Grundgesetz aus der 16. Wahlperiode (BT-Drs- 16/13791), der damals unter Federführung Wolfgang Nešković. vorgelegt wurde.

Das Thema traf auf großes Interesse aus der Zivilgesellschaft. Die Diskussion im Anschluss an die fundierten Beiträge der ReferentInnen machte dabei deutlich, dass die Aufnahme Sozialer Grundrechte ins Grundgesetz notwendiger denn je ist.

Azize Tank erklärte im Vorfeld des Fachgesprächs: „Unser Grundgesetz weist Lücken bei der Gewährleistung Sozialer Grundrechte auf. Fast 70 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes ist es Zeit dieses Ungleichgewicht zu beheben. Ohne effektive Schutzmechanismen verkommen Soziale Menschenrechte zu bloßen Absichtserklärungen. Deshalb wollen wir Soziale Grundrechte ins Grundgesetz aufnehmen. Denn ein Mensch der durch Hunger und Obdachlosigkeit von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen wird, kann sich in der Praxis weder auf den Schutz seiner Privatsphäre berufen noch sein Recht auf Teilnahme an demokratischen Wahlen ausüben. Ohne angemessenen Lohn für seine Arbeit kann das Recht auf Leben nicht selbstbestimmt gestaltet werden.“

Fachgespräch Aufnahme Sozialer grundrechte ins Grundgesetz

Dr. Claudia Mahler
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR)

Dr. Claudia Mahler hob in ihrem, dass Fachgespräch eröffnendem Vortrag hervor, dass dem Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) ein Individualbeschwerdeverfahren lange vorenthalten wurde. Obwohl der UN-Sozialpakt genauso wie der UN-Zivilpakt 1966 verabschiedet wurden und 1976, auch in Deutschland, in Kraft traten, zog sich der Prozess zur Entwicklung des Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt bis 2008 hin. Drei Monate nach der 10. Ratifikation ist das Protokoll am 5. Mai 2013 in Kraft getreten. Claudia Mahler unterstrich, dass obwohl  bislang 21 Staaten dieses Fakultativprotokoll ratifiziert haben, Deutschland nicht dazu gehört. Die Hürden, dass eine Individualbeschwerde in Genf angenommen wird, sind hoch angelegt. Die Sozialen Grundrechte aus dem UN-Sozialpakt können somit gegenwärtig weder auf völkerrechtlicher Ebene eingeklagt werden noch eine Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht eingereicht werden. Denn mit der Ratifikation des UN-Sozialpaktes im Jahr 1976 haben die Paktrechte in Deutschland den Rang eines einfachen Bundesgesetzes erhalten. Nichtsdestotrotz hat das Bundesverfassungsgericht in seiner ständigen Rechtsprechung klargestellt, dass ein Rechtsanwendungsbefehl vorliegt, der sich an alle Stellen der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt richtet.

 

Prof. Dr. iur. Martin Kutscha, Berlin
Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR)

Prof. Martin Kutscha erläuterte im Anschluss in seiner Intervention, das das Grundgesetz a deutsche Grundgesetz von 1949 als Provisorium gedacht war, und sich deshalb neben staatsorganisatorischen Regelungen im Wesentlichen auf die Gewährleistung der klassischen Abwehrrechte, wie sie bereits die „Paulskirchenverfassung“ von 1849 enthielt beschränkte. Er kritisierte, dass Soziale Grundrechte, also Grundrechte auf staatliche Leistungen, sich im Grundrechtsteil des Grundgesetzes hingegen nur vereinzelt wiederfinden, etwa in Form des Mutterschutzes in Art. 6 Abs. 4. Allerdings hat sich die Bundesrepublik Deutschland in späteren Jahren durch völkerrechtliche Verträge zur Wahrung und Verwirklichung sozialer Grundrechte verpflichtet, so insbesondere im sog. UNO-Sozialpakt von 1966. Prof. Kutscha unterstrich die politische Brisanz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Gewährleistungsdimension der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG. Schon ihrem Wortlaut nach enthält diese nicht nur das Gebot der Achtung, sondern auch zum Schutz der Menschenwürde als „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Aus dieser Schutzpflicht in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht die Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums abgeleitet. Damit hat das Bundesverfassungsgericht die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes über seine Abwehrfunktion hinaus als ein subjektives Leistungsrecht gegenüber dem Staat mit durchaus klaren Konturen etabliert.

Prof. Kutscha hob hervor, dass durch eine explizite Normierung im Text des Grundgesetzes würden Soziale Grundrechte seine Geltungskraft möglicherweise besser behaupten können als auf der Grundlage bloßen „Richterrechts“, das von politischen Mehrheiten umso leichter beiseite geschoben werden kann.
Prof. Dr. Dr. h. c. Eberhard Eichenhofer, Jena
Lehrstuhl für Sozialrecht und Bürgerliches Recht, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Prof. Dr. Eberhard Eichenhofer ging in seinem Vortrag zunächst auf die Weimarer Reichsverfassung (11.8.1919) zurück, die als die erste umfassend soziale Menschenrechte als Grundrechte und Grundpflichten formulierte.

Das Grundgesetz (GG) nahm diese Tradition jedoch nicht auf, sondern schuf mit dem Sozialstaatsprinzip(Art. 20,28 GG) bewusst eine Alternative. Diese Entscheidung wurde mit der Rechtsprechung der Weimarer Republik zu den sozialen Menschenrechten in der Reichsverfassung begründet , die danach nur Programmsätze ohne substantiellen Gehalt darstellten , und im Übrigen mit dem provisorischen Charakter des GG. Das an die Stelle sozialer Menschenrechte im GG getretene Sozialstaatsgebot weist der Sozialpolitik Verfassungsrang zu, und gibt damit dem durch das GG verfassten Staat die Pflicht zur Sozialpolitik als umfassender Staatsaufgabe auf. Eine neoliberale politische Agenda: Markt statt Staat, weil der Staat nicht die Lösung, sondern das Problem bedeute- widerspräche damit dem Sozialstaatsauftrag und wäre verfassungswidrig.

Herr Eichenhofer mahnte jedoch an, dass das Sozialstaatsprinzip lediglich staatliche Aufgaben zum Gegenstand habe und dieser Aufgabenbestimmung zugleich mit keinem subjektiven Recht der Berechtigten korrespondiert. Gleichwohl ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass Sozialpolitik Menschenrechte begründet. So hat das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung (BVerwGE 1,159) anerkannte, dass aus Art. 1 I GG – also der Garantie der Menschenwürde – auch ein subjektives Recht auf Sozialhilfe folge. Dieses Urteil schuf die konzeptionelle Grundlage für das als soziales Menschenrecht- Recht auf Fürsorge – verstandene Sozialhilferecht. Im Rahmen der Rechtsprechung des BVerfG sind namentlich die Rechte aus der Sozialversicherung – Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung – als Eigentum(Art. 14 GG) verstanden worden.  Die zentralen Materien des Sozialrechts wurden darüber nicht nur als Gegenstände subjektiver Rechte erkennbar, sondern diese Rechte erlangten durch die Rechtsprechung des BVerfG auch einen genuin grund- und das heißt menschenrechtlichen Gehalt mit verfassungsrechtlichem Rang!

Prof. Eichenhofer verwies darüber hinaus auf die Tatsache, dass die 1975 begonnene Kodifikation des deutschen Sozialrechts – ausweislich der §§ 1-10 SGB I – auf den international anerkannten Sozialen Rechten beruhe. Diese bilden das kodifikatorische Rückgrat für das deutsche Sozialrecht, welches demnach als auf die Verwirklichung dieser sozialen Rechte bestimmt und ausgerichtet zu verstehen ist.  Die elementaren sozialen Rechte sind dem deutschen Sozialrecht mithin elementar geläufig, weil sie seine Kodifikation leiten und prägen.

Das deutsche Sozialrecht und das deutsche Verfassungsrecht sind darüber hinaus nicht nur abstrakt, sondern konkret auf die Anerkennung und Verwirklichung der internationalen Menschenrechte ausgelegt und ausgerichtet. Dies kommt an keiner Stelle so klar zum Ausdruck wie in Art 1 Abs. 2 GG. Aus ihr folgt, dass sich das deutsche Volk zu den unverletzbaren und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt bekenne.

Diese Bestimmung hat Vorrang vor den Grundrechten. In dem Maße, wie die sozialen Menschenrechte als Teil der international anerkannten Menschenrechte zu verstehen sind- übernimmt sie daher auch die deutsche Verfassung mit gleichem Rang wie alle anderen Menschenrechte.

Wolfgang Nešković
Richter am Bundesgerichtshof a.D., ehemals Mitglied des Deutschen Bundestags und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Gerade in Zeiten der finanzpolitischen Krise, in der insbesondere die Kluft zwischen arm und reich immer größer wird, ist es an der Zeit, dafür Sorge zu tragen, einen blinden Fleck im deutschen Grundgesetz zu beseitigen.

Während der Rechtsstaat und die Freiheitsrechte im Grundgesetz und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine detaillierte Ausformung erfahren hat, gilt das nicht im gleichen Maße für das Sozialstaatsprinzip und die sozialen Grundrechte.

Nur im Hinblick darauf, dass das Grundgesetz zum damaligen Zeitpunkt lediglich als Provisorium gedacht gewesen ist, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes darauf verzichtet, Soziale Grundrechte in das Grundgesetz aufzunehmen. Es war absehbar, dass es darüber heftige Kontroversen geben würde. Stattdessen hat man sich entschlossen das Sozialstaatsprinzip als ein Kernprinzip unserer Verfassung, das über Art. 79 GG mit der Ewigkeitsklausel geschützt ist, ins Grundgesetz aufzunehmen. Mehr haben sie zunächst nicht gewagt. Nachdem nunmehr nach der Wiedervereinigung das Grundgesetz endgültig seinen provisorischen Charakter verloren hat, ist es nur konsequent, das ursprüngliche Vorhaben Soziale Grundrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, erneut anzugehen und im Grundgesetz zu verankern.

Fachgespräch Aufnahme Sozialer grundrechte ins Grundgesetz

 

WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN:

Bericht Internationale Konferenz „50 Jahre UN-Sozialpakt – Wo bleiben die Sozialen Grundrechte? – Aufnahme Sozialer Grundrechte ins Grundgesetz“

Antrag “Doppelstandards beenden – Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt zeichnen und ratifizieren” (BT-Drs. 18/4332)

Antrag “50 Jahre Europäische Sozialcharta – Deutschlands Verpflichtungen einhalten und die Sozialcharta weiterentwickeln” (BT-Drs. 18/4092)

Interview »Soziale Grundrechte müssen endlich ins Grundgesetz!« (29.02.2016)

Interview “Soziale Menschenrechte: Deutschland ist Schlusslicht“ (24.02.2015)