Gerechtigkeitslücke bei den Ghetto-Renten schließen – Subsidiäre, lückenfüllende, mindestens fünfjährigen Wartezeit im ZRBG schaffen

Gerechtigkeitslücke bei den Ghetto-Renten schließen – Subsidiäre, lückenfüllende, mindestens fünfjährigen Wartezeit im ZRBG schaffen

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir eine Schutzlücke des ZRGB schließen. Es war der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers mit dem 2002 verabschiedeten ZRBG, alle NS-Verfolgten, die in einem von Deutschen eingerichteten Ghetto, auf Grund eines eigenen Willensentschlusses entgeltlich beschäftigt waren, in die deutsche Rentenversicherung einzubeziehen. Es war auch der ausdrücklich erklärte politische Wille aller Mitglieder des Deutschen Bundestages, mit dem ZRBG zugunsten von Verfolgten, die alle bereits das für die Regelaltersrente geltende Alter von 65 Jahren – teils erheblich – überschritten haben, im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung Neuland zu betreten, wobei von bestimmten Grundsätzen im Bereich der Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten abgewichen werden sollte. Dies schlug sich in dem damaligen Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis90/Die Grünen und FDP und dem Entwurf der PDS nieder.

In den ersten Jahren nach Verabschiedung des ZRBG ist es aufgrund einer restriktiven Auslegung wesentlicher Begriffe dieses Gesetzes, wie „Ghetto“, „Beschäftigung“, „eigener Willensentschluss“ und „Entgelt“ -durch die Verwaltung und die Sozialgerichte- zu zahlreichen Verwerfungen gekommen, weshalb zunächst fast 90 Prozent aller Anträge auf Ghetto-Rente der Überlebenden abgelehnt wurden.

Bei der Verabschiedung des ZRBG sind offensichtlich eine Reihe möglicher Problemlagen nicht sichtbar geworden. Der Deutsche Bundestag war jedoch bislang stets bemüht sie zu lösen, nachdem diese durch Überlebende, engagierte Historiker und mutige Sozialrichter erkannt und aufgezeigt wurden. So geschehen, bei der rückwirkenden Zahlbarmachung von Ghettorenten durch Nichtanwendung von § 44 SGB X auf Zeiten nach dem ZRBG oder beim Abschluss des deutsch-polnischen Abkommens vom 5. Dezember 2014, welches die bisherige Diskriminierung von Ghettobeschäftigten mit Wohnsitz in Polen beseitigte. Dabei haben alle Fraktionen des Bundestages immer gemeinsam an einer einvernehmlichen Lösung der Probleme zusammengearbeitet. Dafür möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen, namentlich auch Frau Staatsekretärin Gabrielle Lösekrug-Möller von der SPD bedanken.

Lassen Sie uns deshalb auch im vorliegenden Fall einvernehmlich eine gravierende Gerechtigkeitslücke bei den Ghetto-Renten schließen.

Zahlreiche Kinder, die nachweislich und unstrittig Beschäftigungszeiten in deutschen Ghettos zurückgelegt haben, erhalten noch immer keine Ghettorente. Es ist dabei kein Geheimnis, dass allein aus ZRBG-Beitragszeiten nie eine Rente in der deutschen Rentenversicherung erworben werden kann. Bei der Verkündung des ZRBG war dies aber offenbar nicht allen bewusst, obwohl bekannt ist, dass kaum ein Ghetto länger als 4 Jahre existierte. Ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste (WD 1 – 3000 – 025/16) bestätigte kürzlich, dass unumstritten „die meisten Ghettos zwischen Herbst 1939 und Sommer/Herbst 1943 existierten“, also höchstens 48 Monate.

Doch ein Anspruch auf eine Ghetto-Rente wird erst bei einer 60-monatigen Wartezeit begründet. Diese kann nur mit Beitragszeiten und ggf. mit Ersatzzeiten (u.a. wegen NS-Verfolgung) erfüllt werden. Selbst der Höchstumfang an ZRBG-Beitragszeiten reicht dafür nicht aus! Erwachsene Personen können zwar, um die Wartezeit zu erreichen, etwaige Lücken in ihren Beitragszeiten dadurch auffüllen, dass sie ihre verfolgungsbedingte Zeit als Ersatzzeiten anrechnen lassen. Doch diese Verfolgungszeit kann erst dann angerechnet werden, wenn die betroffene Person bereits das 14. Lebensjahr vollendet hat.

Überlebende der Shoah, die im Ghetto beschäftigt waren, weisen darauf seit Jahren hin. Der Verband der Jüdischen Glaubensgemeinden der Republik Polen und die Vereinigung der Roma haben sich zuletzt am 27. Januar 2016, vom Gelände des ehemaligen deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, mit einem bewegenden Appel diesbezüglich an die deutsche Bundesregierung gewandt. Der Bevollmächtigte der Jüdischen Gemeinde, Herr Marian Kalwary, unterstrich, dass die bestehende Situation eine fehlende Konsequenz an den Tag lege, der Logik und dem Sinn und Zweck des ZRBG widerspreche. Sie führt in der Praxis, insbesondere bei Kindern zu ungerechten und sachfremden Ergebnissen: Ein Geschwisterpaar, dass im gleichen Betrieb im Ghetto beschäftigt war, und sich später gemeinsam vor der Verfolgung durch die deutschen Nazis verstecken musste, wird je nach Alter unterschiedlich behandelt. Ein Junge der das 14. Lebensjahr vollendet hat erhält eine Ghetto-Rente, während seine 10-jährige Schwester, die mit ihm im Ghetto beschäftigt war und das gleiche Verfolgungsschicksal teilte, nicht. Dieses Ergebnis war dem Gesetzgeber des 2002 verabschiedeten ZRBG vermutlich nicht erkennbar, aber auf jeden Fall nicht gewollt.

In Wirklichkeit können ZRBG-Beschäftigungszeiten Rechte auf eine Rente aus der deutschen Rentenversicherung nie allein begründen, sondern sie allenfalls in Verbindung mit anderweitig erlangten Beitragszeiten mitbegründen oder durch andere Beitragszeiten begründete Rechte erhöhen. Was aber, wenn diese anderweitigen Beitragszeiten gar nicht erworben werden konnten? Dann ist die Wartezeit nicht erfüllt und eine Ghetto-Rente bleibt verwehrt.

Das ist der Fall bei ehemaligen Ghettobeschäftigten, die zu mehrfachdiskriminierten in Osteuropa gehören, wie Sinti und Roma, die selbst nach der Befreiung kaum Zugang zu einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung erhielten. Auch jüdische Überlebende wurden nach der Befreiung antisemitischen Übergriffen und Ausgrenzung ausgesetzt, was die Aufnahme sozialversicherungspflichtiger Arbeitsbeziehungen verhinderte oder verzögerte. Vor ähnlichen Problemen sehen sich Jüdinnen und Juden gestellt, die in einem Land leben mit dem die Bundesrepublik kein Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen hat und somit ausländische Versicherungszeiten in Deutschland nicht angerechnet werden können, um eine Ghetto-Rente zu begründen.

Kinder, die im Ghetto beschäftigt waren, dürfen heute beim Zugang zur Ghetto-Rente nicht deshalb ausgeschlossen werden, weil sie erst aufgrund von NS-Verfolgungsmaßnahmen überhaupt eine Beschäftigung aufnehmen mussten, um zu überleben, obwohl Kinderarbeit grundsätzlich verboten war. Die Anerkennung einer subsidiären, lückenfüllenden, mindestens fünfjährigen Wartezeit im ZRBG ist notwendig und machbar, um diese eklatante Leerstelle des ZRBG zu schließen. Auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages kommen in einem Gutachten (WD 6 – 3000 – 049/16) unter Würdigung aller denkbaren Gegengründe zu Recht zu dem Fazit, dass eine Wartezeitenfiktion im Einklang mit dem Grundgesetz stehen würde. Dadurch könnte für alle ehemaligen Ghettobeschäftigten unabhängig von späteren, in der deutschen Rentenversicherung anrechenbaren Beitragszeiten und von der Anrechnung von Ersatzzeiten, ein gesetzlicher Rentenanspruch begründet werden.

Der vorliegende Gesetzesentwurf lässt somit den Vorrang anderer Zeiten unangetastet. Die subsidiäre Anerkennung der Wartezeiten greift erst dann, und nur dann, wenn die ZRBG-Zeiten nicht mit anderen Beitrags- und Ersatzzeiten belegt sind. Die Wartezeitenfiktion würde lediglich zur Anwendung gelangen, um bestehende Lücken zu füllen, wenn zuvor bereits zweifelsfrei Ghettozeiten nachgewiesen wurden, diese Beitragszeiten jedoch auch zusammen mit anderen Beitrags- oder Ersatzzeiten nicht ausreichen, um einen Anspruch auf Ghettorente zu begründen. Eine solche Regelung ist auch gerecht, denn sie hat keinen Einfluss auf die Höhe der Ghetto-Rente, sondern begründet lediglich einen möglichen Anspruch auf Ghetto-Rente, deren Höhe von den tatsächlich im Ghetto individuell erlangten Entgelten abhängt.

Seit 1999 hat die bestehende BSG-Rechtsprechung geklärt, dass im Zuge der Wiedergutmachung von NS-Unrecht bei Beschäftigungszeiten keine Lebensalters-Untergrenze von 14 Jahren zugrunde zu legen ist. Deshalb steht Kinderarbeit der Annahme eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses grundsätzlich nicht entgegen.

Es ist bekannt, dass der persönliche Anwendungsbereich des ZRBG sich auf jene Personen beschränkt, die zum Zeitpunkt der Verkündung des ZRBG im Jahre 2002 noch lebten und zuvor, zumeist zwischen dem 1. September 1939 und 1. September 1943 Ghettoarbeit verrichtet haben.

Wer sollte also in den Genuss dieser Leistungen kommen? Nehmen wir endlich zur Kenntnis, was bislang nicht ausgesprochen wurde: Das ZRBG betrifft Menschen, die zur Zeit der Ghettoarbeit typischerweise Kinder und Jugendliche, allenfalls Heranwachsende sein konnten. Wenn das ZRBG Ghetto-Renten für Verfolgte vorsieht, die während der Ghettobeschäftigung vor allem Minderjährige sein mussten, dann müssen wir die bestehende Schutzlücke für genau diese Personen auch schließen, um den historischen Realitäten der Ghettobeschäftigung gerecht zu werden.

Wir können diese Tatsache nicht unberücksichtigt lassen! Der bestehende Widerspruch kann durch die Anerkennung einer subsidiären, lückenfüllenden, mindestens fünfjährigen Wartezeit im ZRBG behoben werden. Damit wäre eine wichtige Gerechtigkeitslücke bei der Widergutmachung von NS-Verfolgung behoben. Ich bitte im Namen der überlebenden Kinder, die in deutschen Ghettos unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten mussten, um ihre Zustimmung zu dem Gesetzentwurf über die Fraktionsgrenzen hinweg.