Fact-finding-Mission in den kurdischen Gebieten der Türkei Ende Oktober 2014
Auf Wunsch vieler kurdischer Freundinnen und Freunden und anderer Menschen, die über die drohende humanitäre Katastrophe sehr beunruhigt waren, habe ich mich kurzfristig entschlossen, eine Reise in die kurdischen Gebiete der Türkei zu unternehmen. Ich wollte mir mit kompetenten Gesprächspartnern, politischen Akteuren und der Bevölkerung selbst ein authentisches Bild angesichts der zum Teil widersprüchlichen und fragwürdigen Meldungen machen. Eine wichtige Frage hierbei war: warum ist die Türkei nicht bereit ist, den Peshmergas beziehungsweise Guerillakämpfern vor Ort militärische Unterstützung zu gewähren.
Innerhalb kürzester Zeit ist es mir gelungen, Gespräche mit Vertretern aller wichtigen politischen Parteien wie bspw. der AKP, BDP/HDP und CHP sowie den Bürgermeistern und den jeweiligen Parteivorsitzenden der drei von mir bereisten Städten, Diyarbakir, Urfa und Suruç zu führen. In der Nähe von Suruç konnte ich auch zwei Flüchtlingsunterkünfte besuchen. Ich habe darauf Wert gelegt, einen eigenen Vertrauens- Dolmetscher für die kurdische Sprache mitzunehmen.
Alle mit denen ich gesprochen habe, waren sich einig darüber, dass die Situation vor Ort in vielerlei Hinsicht eine ungeheure Belastung bedeutet: innerhalb kürzester Zeit sind hunderttausende von Flüchtlingen in die kurdischen Gebiete der Türkei geströmt. In die Kleinstadt Suruç kamen alleine im September/Oktober etwa 200.000 Flüchtlinge. Trotzdem ist es gelungen, die wichtigsten Grundbedürfnisse sicherzustellen, und zwar durch gemeinsame Anstrengungen der Bevölkerung vor Ort, großzügige Hilfen Seitens des Staates, der Region und der kommunalen Behörden sowie einiger Hilfsorganisationen. Täglich drei Mahlzeiten und eine medizinische Grundversorgung sind somit gesichert. In manchen gibt es darüber hinaus auch Schulunterricht. Die Flüchtlinge werden nach ihren Wünschen zusammen mit anderen Menschen aus ihrer Region und Familien untergebracht. So befinden sich in Diyarbakir vornehmlich Jesiden. Eine Residenzpflicht, also ein Reiseverbot, oder ein Verbot zu arbeiten gibt es nicht. Dies führt dazu, dass eine ganze Reihe schon nach kurzer Zeit zu Verwandten oder Freunden andernorts in der Türkei gehen konnte, um dort zu wohnen und sogar zu arbeiten.Trotzdem fehlt es noch an wichtigen Dingen – Hilfe ist weiterhin notwendig.
Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner aller Parteien waren führende Vertreterinnen und Vertreten. Vor allem die kurdischen Frauen waren sehr beeindruckend.
Der Friedensprozess, der in den letzten Jahren zwischen der Regierung der Türkei auf der einen und der PKK mit deren Führer Abdullah Öcalan auf der anderen Seite verstärkt geführt wurde, wird nicht nur von den Vertreterinnen und Vertretern der Parteien, sondern auch von der gesamten Bevölkerung begrüßt – auch es noch keine wesentlichen spürbaren Veränderungen gibt. Die Menschen in den kurdischen Gebieten sind erleichtert darüber, dass seit zwei Jahren die Waffen im wesentlichen Schweigen und ihre Kinder nicht mehr mit dem täglichen Anblick von Panzern aufwachsen müssen. Im Gespräch sind offenbar auch konkrete Hafterleichterungen für Öcalan.
Im Fernsehen war zu beobachten, das bei großen Demonstrationen in den kurdischen Städten für Solidarität mit dem Kampf um Kobane auch große Bilder von Öcalan und auch die kurdisch Fahne gezeigt wurden, ohne dass die Polizei deswegen einschritt.
Von der Grenze aus konnte ich Kobane – mit Rauchwolken über der Silhouette – im Tal liegen sehen und Geschütz-Donner und Gewehrsalven hören. Meine Gesprächspartnerinnen teilten mir mit, dass die gesamte Zivilbevölkerung inzwischen Kobane verlassen hat, dort befinden sich nur noch Kämpfer. Der Kampf um Kobane habe für sie eine große Bedeutung, auch in symbolischer Hinsicht: Kobane ist Zentrum einer selbst Verwaltungsregion, die exemplarischen Charakter für die kurdischen Gebiete in Syrien aber auch weit darüber hinaus habe. Deshalb sei es so wichtig für sie, zu kämpfen. Das plötzliche weltweite Interesse und das militärische Engagement der USA und ihrer Verbündeten werde mit zwiespältigen Gefühlen und einiger Skepsis beobachtet: die Kämpfer der IS seien über längere Zeit auf einer breiten Ebene nach Kobane vorgerückt, was der USA, nicht verborgen geblieben sein konnte. Auch glaube hier keiner, dass es ein Versehen gewesen sei, angeblich für die Peschmergas bestimmte schwere Waffen ausgerechnet in der Nähe von IS Kämpfern abzuwerfen, so dass diese an die Waffen gelangen konnten. Auch früher habe sich niemand für die Jesiden oder andere Kurden in dieser Region interessiert. Vielmehr dränge sich der Eindruck auf: weil hier kein Öl oder andere wichtigen Bodenschätze zu holen oder zu sichern seien, gibt es auch keinen Grund zum Eingreifen.
Meine wichtigsten Schlussfolgerungen:
– Aus Humanitärer Hinsicht muss umgehend medizinische Hilfe geleistet werden, insbesondere Medikamente, sowie Winterkleidung müssen dorthin geschafft werden.
– Der Kampf um Kobane sollte vor allem wegen seiner emanzipatorischen Bedeutung weiterhin unterstützt werden, vor allem mit humanitärer und wirtschaftlicher Hilfe.
– Statt der Lieferung von Waffen, die nur der Rüstungsindustrie nützt, muss der Friedensprozess unterstützt werden, d.h. in der Türkei muss vor allem der Dialog mit Abdullah Öcalan fortgesetzt werden. In Deutschland muss das undemokratische PKK Verbot und die Kriminalisierung von Kurdinnen und Kurden auf der Grundlage der EU Terrorliste und die Verfolgung und Kriminalisierung von PKK-Anhänger nach Paragraf 129 b Strafgesetzbuch, beendet werden.